Das Thema Dialysezeit = Lebenszeit ist sicher kein einfaches Thema. Die Lebenszeit eines Dialysepatienten beinhaltet nicht nur Überleben an der Dialyse (um jeden Preis) sondern sollte Leben mit der Dialyse bedeutet und zwar mit einer befriedigenden Lebensqualität.
Wie aber kann das erreicht werden? Immer wenn Patienten in der Praxis auf die Dialyse vorbereitet werden, taucht irgendwann die Frage auf: " Wie lang muss ich überhaupt dialysieren?"
Diese Frage beantworte ich mit der Gegenfrage: " Wie lange wollen Sie denn leben?!"
Nach einer kurzen Irritation kommt dann meist die Antwort: "lange" , worauf ich dann wiederum entgegne: "Dann sollten Sie auch lange dialysieren!"
Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Dauer der einzelnen Dialysebehandlung auf der einen Seite und der Lebenszeit und der Lebensqualität auf der anderen Seite.
Dies ist für die Betroffenen wie auch für die Angehörigen nicht immer leicht zu verstehen und einzusehen.
Ich will versuchen diesen Zusammenhang zu erklären und leicht verständlich zu machen.
Deshalb werden wir den Dialysebereich jetzt erst einmal ganz verlassen und begeben uns gedanklich auf eine "Volkswanderung!"
Sie haben doch sicher alle schon einmal an einem Wochenende die Wander-Gruppen gesehen, die einer ausgeschilderten Strecke folgen, manche schnell im Dauerlauf, viele wesentlich gemütlicher, einige mit Hund, einige mit Kindern und auch mit Kinderwagen.
Eine solche Veranstaltung soll uns jetzt als Modell dienen: Nehmen wir einmal an wir haben eine Strecke von 5 Kilometern Länge ausgeschildert.
Gestartet wird auf einem großen Marktplatz.
Am Start sind viele Teilnehmer aller Altersgruppen, aber wegen der Beschaffenheit der Strecke mit Engstellen und Steigungen können nur 150 Wanderer starten, mehr dürfen sich aus Sicherheitsgründen nicht gleichzeitig auf der Strecke befinden.
Die Strecke ist ein Rundkurs und das Ziel befindet sich also gegenüber dem Start auf der anderen Seite des Marktplatzes, wo auch die Busse auf die Ankommenden warten.
Nach dem Startzeichen gehen also die ersten 150 Wanderer auf die Strecke.
Darunter sind einige Athleten, die sich sofort im Dauerlauf an die Spitze setzten und die 5 km sicher in weniger als 20 Minuten schaffen.
Die meisten gehen es langsamer an und werden wohl ungefähr eine Stunde brauchen.
Einige gehen ganz gemütlich und unterhalten sich.
Und dann sind da noch einige Korpulentere, die bald langsamer gehen und ab und zu stehen bleiben müssen.
Nicht zu vergessen die Eltern mit kleinen Kinder oder mit Kinderwagen.
Für unser Volkswanderungs-Modell gilt folgendes:
Immer wenn ein Wanderer das Ziel erreicht hat, kann wieder einer aus der Menge der am Start Wartenden auf die Strecke gehen, so dass immer 150 Leute unterwegs sind.
Wer fertig ist, steigt in einen Bus und wird dann weggefahren.
Genau nach 5 Stunden wird die Veranstaltung beendet.
Bis dahin ist die Menge der Wartenden deutlich kleiner geworden und viele Busse haben den Platz verlassen.
Pünktlich nach 5 Stunden fährt der letzte Bus ab, d.h. wer jetzt noch auf der Strecke ist kann den Bus nicht mehr erreichen und geht daher langsam weiter Richtung Ziel.
Sie werden sich sicher fragen: "Was hat denn das mit der Dialyse zu tun?" und ich werde jetzt versuchen, Ihnen anhand dieses Modells der Volkswanderung die Reinigungsvorgänge bei der Dialyse verständlich zu machen.
Der Start sind die mit Giftstoffen beladenen Körperzellen. Die Wanderer sind die vielen verschiedenen Giftstoffe und das Ziel ist der Dialysefilter, durch den die Giftstoffe entfernt werden. Dort warten also die Busse.
Der Weg zum Filter führt zunächst von den Körperzellen zu den Blutgefäßen und dann mit dem Blutstrom weiter zum Shunt, in dem ja die Dialysenadeln mit den Leitungen zum Filter liegen.
Sie müssen sich jetzt vorstellen, dass die Giftstoffe, die sich zwischen den Dialysebehandlungen in den Körperzellen angesammelt haben, so verschieden sind wie unsere Teilnehmer an der Volkswanderung, d.h. es gibt Große und Kleine, Dicke und Dünne und Langsame und Schnelle.
Sie erinnern sich, dass sich von der letzten Wanderung bzw. der letzen Dialyse her noch 150 Teilnehmer bzw. Giftstoffe auf der Strecke befinden, die den letzten Bus nicht mehr erreicht haben.
Wenn jetzt eine neue Behandlung beginnt, werden einige also das Ziel schnell erreichen und der erste Bus kann bald abfahren. Dies schafft Platz auf der Strecke und dann können sich neue Giftstoffe aus den Körperzellen in Bewegung setzten, denn die Teilnehmerzahl ist ja begrenzt.
Zu der Teilnehmerzahl muss ich noch kurz etwas bemerken:
Wir hatten vorher gesagt, das die Teilnehmerzahl wegen Steigungen und Engstellen auf der Strecke auf 150 begrenzt werden musste.
Die mögliche Teilnehmerzahl bzw. die Menge der Giftstoffe wird u.a. bestimmt durch die Geschwindigkeit mit der das Blut durch den Filter fließt.
Die Filtermembranen reinigen heute blitzschnell und je mehr Blut durch den Filter fließt umso mehr Giftstoffe können entfernt werden.
Der Blutfluss hängt wiederum ab von der Qualität und der Güte des Shunts, in dem ja die Nadeln mit den Leitungen zum Filter liegen. Zu Qualität einer guten Dialyse liegt so auch an der Qualität eines guten Shuntchirurgen.
Wenn es also gelingen würde, einige Engstellen auf der Strecke zu beseitigen, dann könnten auch mehr Wanderer gleichzeitig auf der Strecke zugelassen werden.
Auf die Dialyse übertragen bedeutet dies folgendes:
Bei einem langsamen Blutfluss bzw. einem nicht so guten Shunt haben wird lediglich unsere bekannten 150 "Wanderer" auf der Strecke, bei einem gut funktionierendem Shunt kann die Zahl aber durchaus auf 300 bis 350 steigen.
Prof. Krönung aus der DKD in Wiesbaden oder Dr. Mündlein in Offenburg z.B. sind einer der wenigen Spezialisten für Shuntchirurgie und somit ein wichtigen Teil der Dialysekette - den Shunt. Solche Fachleute sind in den Vorortkliniken selten anzutreffen. Daher kommt es teils zu zahlreichen Komplikationen und Nachoperationen bis ein Shunt eine soclhe Qualität besitzt um genügend Wanderer auf die Strecke schicken zu können.
Zurück zur Volkswanderung:
Die Geschwindigkeit der einzelnen Wanderer ist also der wichtigste Faktor bei dem Zusammenhang von Lebenszeit und Dialysezeit und hierbei ist wiederum der Weg von den Körperzellen hin zu den Blutgefäßen entscheidend .
Wenn die Giftstoffe einmal die Blutgefäße erreicht haben, werden sie vom Blutstrom mitgerissen und bewegen sich dann nahezu mit der gleichen Geschwindigkeit Richtung Shunt und zum Filter und werden also relativ schnell entfernt. Der letzte Teil des Weges geht also schnell.
Die "Nachlieferung" der Giftstoffe aus den Körperzellen in das Blut erfolgt jedoch verzögert und hier liegt die entscheidende Erklärung.
Das Tempo der verschiedenen Giftstoffe vom Start aus den Körperzellen bis zum Erreichen der Blutgefäße ist genauso verschieden wie das Tempo bei den Teilnehmern unserer Volkswanderung.
Auch hier gibt es durchtrainierte Athleten im Dauerlauf ( wie z.B. Kalium, Kreatinin und Harnstoff) die den Bus schnell erreichen und somit Platz für Nachfolger machen.
Andere Giftstoffe - wie z.B. das Phosphat - marschieren viel langsamer und brauchen vielleicht 1 Stunde bis zum Bus, erst dann kann sich wieder neues Phosphat auf den Weg machen.
Manche Giftstoffe brauchen noch länger und jetzt verstehen Sie vielleicht besser den Unterschied der Reinigung zwischen einer Dialyse die 3 Stunden und einer Dialyse die 6 Stunden dauert.
Wenn Engstellen der Wegstrecke beseitigt werden und so ein sehr guter Blutfluss erreicht wird, so können sich zwar mehr Giftstoffe auf den Weg machen, die Wandergeschwindigkeit der einzelnen Giftstoffe von der Körperzelle bis zum Blut wird aber dadurch nicht verändert, d.h. es sind mehr unterwegs aber nicht schneller.
Dies ist der entscheidende Punkt!
Giftstoffe die z.B. 2 Stunden bis zum Erreichen des Blutes brauchen werden bei einer 3-Stunden-Dialyse also nur einmal entfernt, bei einer 6- Stunden-Dialyse dreimal. Ein Giftstoff der 3 Stunden bis zum Erreichen des Filters benötigt würde bei einer 2-Stunden-Dialyse also gar nicht entfernt werden.
Die Giftstoffe, die sich am Ende der Dialysebehandlung noch auf der Wanderung befinden, bleiben im wahrsten Sinne des Wortes "auf der Strecke" d.h, im Körper - bis zur nächsten Dialyse. Die Wanderung wird aber nicht abrupt gestoppt sondern geht noch weiter Richtung Blutgefäße. Der Abtransport entfällt dann allerdings - alle Busse sind abgefahren bzw. die Dialysenadeln wurden gezogen.
Wir halten also fest:
Die Wandergeschwindigkeiten der einzelnen Giftstoffe von den Köperzellen bis zum Erreichen der Blutgefäße sind unterschiedlich und können nicht beeinflusst werden.
Je länger die Dialyse also dauert, desto öfter erreicht ein bestimmter Giftstoff den Filter und wird somit entfernt.
Die Dauer der Dialysebehandlung ist damit ein entscheidender Faktor für die Qualität der Reinigung. Die Qualität der Reinigung bestimmt wiederum wesentlich die Lebenszeit des Dialysepatienten
Wir verlassen unser Volkswanderungsmodell in der Hoffnung, dass Sie jetzt besser verstehen, warum die Dauer der Behandlung und damit die Anzahl der abgefahrenen Busse so entscheidend ist.
Wie lange Dialyse ist also lange genug?
Die eigenen Nieren arbeiten bekanntlich 24 Stunden am Tag. Also wären 24 Stunden Dialyse täglich wohl am besten um dem Original nahe zu kommen.
Ich spreche hier von Hämodialyse mit Shunt, künstlichem Filter und Dialysemaschine.
Jeden Tag 24 Stunden an der Dialysemaschine zu verbringen ist wohl nicht vorstellbar und auch nicht realistisch.
Dreimal wöchentlich 2 Stunden zu dialysieren ist sicher zu wenig.
Wo liegt also das richtige Maß?
In den Anfängen der Hämodialyse waren 2 x 12 Stunden oder 3 x 8 Stunden die Regel.
Dies lag aber auch daran, dass die Reinigungskraft der künstlichen Filter damals nicht so gut war und allein deshalb eine lange Dialysezeit erforderlich war.
Nach technischer Weiterentwicklung und Verbesserungen der Filter ging man daran die Dialysezeit zu verkürzen, wobei man in Europa heute allgemein von einer Dialysezeit von 4-5 Stunden dreimal wöchentlich ausgeht.
Die Propagierung der Kurzeitdialysen (2-3 Stunden) nach der Verbesserung der Membranen war eine verhängnisvoller Weg.
Insbesondere in den USA führte dies zu einer deutlichen Verschlechterung der Überlebenszeit der Dialysepatienten.
Die Statistiker liefern hierzu immer so erbarmungslose Zahlen:
Die 5-Jahres-Überlebensrate z.B. ist eine solche Zahl.
Hier wird einfach nachgeschaut wer wann an die Dialyse kam und wer nach 5 Jahren noch da ist, d.h. noch am Leben ist.
Grunderkrankung, Alter bei Dialysebeginn und Geschlecht etc. spielen hierbei keine Rolle.
Nach Einführung der Kurzeitdialyse lag die 5-Jahres-Überlebensrate der Dialysepatienten in den USA knapp unter 50%, d.h. nach 5 Jahren war jeder 2. nicht mehr da.
Für Europa liegen dies Zahlen meines Wissen so bei 82% und die Japaner sind noch etwas besser. Dies liegt zum einen an dem etwas geringeren Körpervolumen der Asiaten, aber auch daran, dass die japanischen Krankenkassen keine Dialyse unter 4 Stunden vergüten, aber für längere Dialysezeiten Zuschläge bezahlen.
Eine Faustformel für die Dialysezeit lautet:
Mindestdialysezeit (min)= Körpergewicht (kg) x 4
Dies kann jeder Dialysepatient mal bei sich überschlagen.
Nach oben ist diese Zeit immer flexibel.
Die Zeit an der Dialysemaschine ist für viele Patienten schlimme Zeit, nicht weil es ihnen durch die Dialyse schlecht ergeht, vielmehr geht ja die Dialysezeit von der Freizeit ab.
Eine Verkürzung der Dialysezeit wird daher immer begrüßt, während Vorschläge zur Verlängerung der Dialysezeit auf wenig Gegenliebe stoßen.
Dies resultiert meist aus eine mangelnden Aufklärung über die Gesamtproblematik.
Dialysebehandlung ist eine langfristige Behandlung und muss immer in ihren Auswirkungen auf viele Jahre betrachtet werden. Das muss sich jeder ins Bewusstsein rufen, wenn er mit dem Dialysearzt oder dem personal um kürzere Dialysezeit feilscht. Wenn die Ärzte da nicht freizügig sind ist das kein böser Wille sie haben das Ganze auf Langzeitsicht in Ihrem Interesse im Blick.
Der momentane Gewinn einer Stunde bei verkürzter Dialysezeit bedeutet langfristig die Verkürzung der Lebenserwartung des Betroffenen. Also Ihrer Lebenszeit! Was bedeutet weniger Zeit mit dem Partner, weniger Zeit mit den Enkelkindern nur weil die Einsicht für längere Dialyse bei Notwendigkeit fehlte.
Über die Schädlichkeit des Rauchens gibt es heute keine Zweifel mehr.
Genauso gibt es keine Zweifel an der Schädlichkeit einer zu kurzen Dialysedauer.
Ich habe versucht, Ihnen die Problematik einer sehr komplexen Materie anhand des vereinfachenden Beispiels der Volkswanderung etwas näher zu bringen und hoffe, dass dies zu einem Teil gelungen ist.
Wenn Sie das nächste Mal an einer Volkswanderung teilnehmen, oder Wanderer sehen, denken sie vielleicht über Ihre Situation als Dialysepatient nach.
Martin G. Müller