Leben heißt auch fühlen – Sexualität unter der Dialysetherapie

von Martin G. Müller Spektrum Dialyse


Sexualität bei Dialyse? Ein Thema, über das kaum jemand spricht – aber das viele betrifft. Ein ehrlicher Beitrag für alle, die auch mit chronischer Krankheit Nähe und Sinnlichkeit erleben wollen:

 

Sexualität ist ein Teil des Lebens – auch dann, wenn Krankheit, Dialyse oder Pflegebedürftigkeit den Alltag bestimmen. Doch gerade bei Menschen mit chronischer Nierenerkrankung wird dieses Thema oft übersehen, übergangen, verschwiegen oder verdrängt.

 

Die Realität sieht anders aus: Viele Betroffene leiden im Laufe der Zeit unter hormonellen Veränderungen, Durchblutungsstörungen, Nervenschäden oder Nebenwirkungen von Medikamenten. Häufig kommt es zu sexuellen Funktionsstörungen – etwa ausbleibender Erregung, Erektionsproblemen, Libidoverlust oder Schmerzen bei der Berührung. Bei vielen Patient*innen verstärken sich diese Veränderungen mit der Dauer der Dialysetherapie. Das belastet auch Partnerschaften.

 

Die psychische Seite ist dabei nicht zu unterschätzen: Der veränderte Körper, Narben, ein Katheter oder Shunt, oder der ständige Anschluss an Maschinen können das eigene Selbstbild – bei Menschen aller Geschlechter – tiefgreifend verändern. Partnerschaften zerbrechen nicht selten – oder es kommt gar nicht erst zu neuen Beziehungen, weil Scham, Unsicherheit oder Isolation dominieren. Viele leben seit Jahren oder Jahrzehnten ohne wirkliche körperliche Nähe, obwohl die Sehnsucht danach bestehen bleibt.

 

Gerade in der Dialyseversorgung wird dieser Aspekt des Lebens zu oft übersehen oder gar nicht erst angesprochen. Dabei betrifft er nicht nur ältere Menschen, sondern auch jüngere Patient*innen, die mitten im Leben stehen – mit denselben Bedürfnissen, Fragen und Hoffnungen wie gesunde Menschen auch.

 

Dieser Artikel möchte deshalb Mut machen und das Thema bewusst öffentlich ansprechen: zur offenen Auseinandersetzung, zur Selbstfürsorge – und zur Suche nach Wegen, wie Sexualität trotz Krankheit und Einschränkungen möglich und lebendig bleiben kann. Aber auch Probleme und falsche Wahrnehmungen darstellen.

 

Sexualität verschwindet nicht mit der Krankheit

 

Der Wunsch nach Sexualität hört nicht auf, nur weil man krank ist. Und doch wird kaum darüber gesprochen – vor allem nicht, wenn Menschen allein sind, auf Dialyse angewiesen oder körperlich stark eingeschränkt. Oft wird das Thema aus Scham selbst unter Betroffenen nicht angesprochen. Und wenn doch, dann häufig in einer Art unpassender Heiterkeit, die keine echte Auseinandersetzung zulässt. Manchmal auch in der Haltung: „Das ist vorbei, das interessiert mich nicht mehr“ – oder schlimmer noch: dass einem diese Seite des Lebens nicht mehr „zustehe“. Der Patient schweigt hier zu oft. Dabei ist es genau umgekehrt: Sexualität ist ein menschliches Grundbedürfnis – unabhängig von Alter, Geschlecht, Partnersituation oder Krankheitsverlauf. Oft erlebt man dies insbesondere in den Dialysen.

 

Wo Nähe medizinisch ist

 

Viele Dialyseschwestern und -pfleger können bestätigen, was sich Tag für Tag in den Zentren beobachten lässt: Flirtversuche gehören zum Alltag – quer durch alle Altersgruppen. Es fliegen Sätze wie „Hallo, ihr Hübschen!“ oder spontane Komplimente über neue Frisuren, Schmuck oder den Charakter durch den Raum. Manche Patient*innen werden leider auch im Bereich der Intimzonen handgreiflich. Gerade dort, wo zwischenmenschlicher Kontakt im Alltag selten geworden ist, wird die Dialyse für manche zu einem der wenigen Orte, an dem noch Nähe, Aufmerksamkeit oder sogar spielerisches Werben möglich ist. Wer noch Sehnsüchte hat, äußert sie oft genau dort, wo er oder sie dem anderen Geschlecht aufgrund der Behandlung am nächsten kommt. In der Dialyse kommt man sich bei der Punktion besonders nah. Die wiederholten Berührungen, der Blickkontakt und die körperliche Nähe schaffen eine besondere Situation – zwischen Vertrauen, Notwendigkeit und emotionaler Offenheit. Es entsteht ein innerer Widerspruch, ein emotionaler Zwiespalt: Einerseits ist es ein klar medizinischer Vorgang, andererseits kann genau dieser Körperkontakt (z.B. Hautkontakt, Handgriff am Arm, Blickkontakt bei der Punktion) emotional aufgeladen werden – vor allem bei Menschen, die im Alltag wenig körperliche Zuwendung erleben. In der Pflege spricht man in diesem Zusammenhang auch von „Übertragung“ oder einer „Beziehung in Pflegeabhängigkeit“. Flirt ist menschlich – aber Pflege ist kein Ersatz für Partnerschaft. Denn hier bringt einen nicht Anziehung oder gemeinsame Interessen zusammen, sondern das Krankheitsbild. Ohne die Erkrankung wäre man sich im Privatleben vielleicht nie begegnet – oder achtlos aneinander vorbeigegangen. Darum sollten auch keine privaten Kontaktdaten ausgetauscht werden, da es hier leicht zu Missverständnissen kommen kann. Das Pflegepersonal sollte zudem bewusst darauf achten, welche Informationen und Bilder es in den sozialen Medien über sich veröffentlicht – auch das kann emotionale Nähe verstärken, die im professionellen Kontext fehl am Platz ist.

 

Auch Pflegekräfte haben ein Recht auf Grenzen

  • Aussage einer Schwester: „Ich arbeite seit vielen Jahren in der Dialyse. Natürlich spüren wir, dass unsere Patientinnen und Patienten oft einsam sind – manche sehen uns öfter als ihre Familie. Viele brauchen Nähe, ein gutes Wort, ein freundliches Lächeln. Und das geben wir gern. Aber manchmal kippt es – es wird geflirtet, zweideutig gesprochen, es kommen auch Berührungen, die nicht mehr okay sind. Für uns ist das ein Drahtseilakt. Wir wissen: Diese Menschen sind oft schutzbedürftig, krank, abhängig. Aber wir Pflegekräfte sind auch Menschen mit Grenzen.“ „Ich habe selbst erlebt, wie belastend das sein kann. Wenn jemand wiederholt Komplimente macht oder sich ungewollt nähert, weiß man oft nicht, wie man reagieren soll. Ein klares ‚Nein‘ fühlt sich hart an, aber einfach still zu bleiben ist auch keine Lösung. Ich will ja helfen – aber nicht Objekt der Begierde sein. Ich wünsche mir, dass auch wir im Team darüber sprechen dürfen – ohne Schuldzuweisung, aber ehrlich. Denn Pflege ist Nähe, aber keine intime Beziehung.“

Zwischen Nähe und Zurückhaltung

  • Aussage eines Patienten: „Ich versuche immer, höflich und angenehm zu sein. Ich möchte nicht auffallen, keine Umstände machen, keine Grenze überschreiten. Ich beobachte viel, formuliere bewusst – und trotzdem frage ich mich manchmal: Kommt es vielleicht anders an, als ich es meine? In der Dialyse ist man sich sehr nah. Nähe lässt sich da kaum vermeiden – die Blicke, die Berührungen, die Stimme der Schwester, die sich über einen beugt, wenn sie punktiert oder ans Gerät anschließt. Ich spüre das – nicht nur körperlich, sondern auch emotional. Es ist ein Raum zwischen Pflege und Begegnung, wo ich gerne mehr möchte, als erlaubt ist. Und so sehr ich mich bemühe, sachlich zu bleiben, respektvoll, auch ein bisschen geistreich vielleicht – ich weiß, dass meine Sehnsucht manchmal zwischen den Worten mitschwingt. Ich will niemanden bedrängen, auf keinen Fall. Aber ich will auch nicht unsichtbar sein. Und das auszubalancieren ist schwer – besonders, wenn man so viel allein ist. Man begegnet hier immer wieder denselben Menschen, über Jahre hinweg. Manche davon sind sehr attraktiv – und ich weiß im privaten Leben wären sie alle unerreichbar geblieben. Diese Vertrautheit über die Zeit hinweg weckt Gefühle und Wünsche, die nicht erlaubt sind – aber sie fühlen sich echt an. Und zu oft verschwimmt dabei die Linie, die eigentlich Abstand verlangt. Ich wünsche mir manchmal, einen dieser Menschen für meine Einsamkeit zu Hause, die viel Problemfelder besitzt. Aber das würde ich nie offen so klar sagen.“

Zärtlichkeit und Nähe beginnt bei uns selbst

 

Viele Dialysepatient*innen erleben zwangsläufig mit der Zeit Veränderungen im Körperbild, in der Hormonlage oder im Selbstwertgefühl. Auch chronische Müdigkeit (Fatigue), Schmerzen, Medikamente oder Folgeerkrankungen wie Osteopathie oder Nervenschäden können die Lust teils stark beeinflussen – aber sie nehmen sie, wie dargestellt, nicht vollständig. Was bleibt, ist das Bedürfnis nach Berührung, Nähe und sinnlicher Erfahrung. Wer keinen Partner oder keine Partnerin hat, steht damit nicht allein. Selbstberührung und gezielte Hilfsmittel können helfen, wieder in Kontakt mit dem eigenen Körper zu kommen – auf sanfte, sichere und selbstbestimmte Weise.

 

Gerade bei eingeschränkter Beweglichkeit oder fehlender Kraft gibt es mittlerweile auch technische Unterstützung. Moderne Geräte – sogenannte Sextoys – sind längst nicht mehr peinlich oder anstößig, sondern echte Alltagshilfen – man könnte sagen: ähnlich nützlich wie ein Rollator, ein Badewannenlift oder ein verstellbares Bett. Es gibt Modelle für alle Geschlechter und Körperformen: luftbasierte Stimulatoren, die ganz ohne Reibung auskommen, vibrierende Massagegeräte, die Muskelverspannungen lösen, oder app-gesteuerte Geräte, die man im Liegen oder mit wenig Bewegung nutzen kann. Auch diskrete Einwegprodukte mit weicher Hülle und integriertem Gleitgel bieten einen geschützten Raum für eigene Erkundung – ganz ohne technische Hürde.

 

Sexualbegleitung: Ein Angebot mit Würde

 

Für manche Menschen reicht das nicht aus. Wer sich nach Nähe, echter Berührung oder zwischenmenschlichem Kontakt sehnt, kann sich auch an speziell geschulte Sexualbegleiter*innen wenden. Dieses Angebot richtet sich ausdrücklich an Menschen mit Einschränkungen – sei es durch Krankheit, Behinderung, Alter oder Einsamkeit. Sexualbegleitung ist dabei keine klassische Prostitution, sondern eine respektvolle Form der körpernahen Assistenz. Sie kann vom einfühlsamen Gespräch über achtsame Berührung bis hin zur sexuellen Handlung reichen – im Rahmen dessen, was die betroffene Person sich wünscht und zulässt. Ziel ist nicht „Leistung“, sondern die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit Beziehung auf Augenhöhe, Sinnlichkeit, Würde und Selbstbestimmung zu erleben.

 

Die Kosten für eine Stunde Sexualbegleitung liegen nach Recherchen in der Regel zwischen etwa 80 und 150 Euro, zuzüglich eventueller Fahrtkosten. Gesetzliche Krankenkassen übernehmen diese Kosten derzeit nicht. In Einzelfällen ist jedoch eine Finanzierung über die Eingliederungshilfe (§112 SGBIX), das Persönliche Budget oder im Rahmen einer sozialrechtlich begründeten Einzelfallentscheidung möglich – etwa bei anerkannter Schwerbehinderung oder Pflegegrad. Auch wenn dies aktuell schwer durchsetzbar ist, ist es nicht unmöglich: Im Saarland wurden laut Presse in zwei dokumentierten Fällen die Kosten vom Regionalverband übernommen.

 

Dafür braucht es zwar keine ärztliche Verordnung im engeren Sinne, jedoch kann eine schriftliche Stellungnahme durch Fachkräfte aus dem Sozialdienst, der Psychologie oder einer Sexualberatungsstelle hilfreich sein. Man muss bereit sein, eine gewisse innere Schamgrenze zu überwinden – und den Wunsch nach eigener Intimität offen zu benennen. Ebenso muss man sich auf den Weg durch die Bürokratie und das Antragsverfahren einlassen.

 

Wer diesen Weg der Sexualbegleitung gehen möchte, sollte wissen: Alles geschieht freiwillig – und im Tempo der betroffenen Person. Ein erstes Vorgespräch ist üblich und schafft Vertrauen. Sexualität darf auch in der Pflegebedürftigkeit oder chronischen Krankheit ihren Platz behalten – ohne Tabu, ohne Scham, mit Würde.

 

Mit Achtsamkeit genießen – und passende Hilfen finden

 

Es ist wichtig, auf den eigenen Körper zu achten – besonders bei chronischer Erkrankung oder körperlicher Einschränkung. Dialysepatient*innen haben spezielle medizinische Voraussetzungen, die auch beim Thema Sexualität berücksichtigt werden sollten. So kann die regelmäßige Gabe von Heparin oder anderen blutverdünnenden Medikamenten dazu führen, dass schon kleine Hautverletzungen länger nachbluten oder Hämatome – etwa im Genitalbereich – entstehen. Wer empfindliche Gefäße oder bereits Hautprobleme hat, sollte besonders sanfte Produkte verwenden.

 

Auch Herz-Kreislauf-Belastungen durch Orgasmus oder starke Erregung können bei vorgeschädigtem Herzen spürbar werden. Hier gilt: langsam, bewusst und ohne Leistungsdruck. Patient*innen mit Herzschrittmacher sollten auf Toys mit starker Pulsfrequenzsteigerung oder elektrischer Stimulation grundsätzlich verzichten. Bei einem Katheter oder PD-Ausgang ist besondere Vorsicht geboten – alles, was eine Zugbelastung im Bauchbereich auslöst, sollte vermieden werden. Die Qualität der Erfahrung zählt – nicht ihre Intensität.

 

Ein weiteres Thema sind neurologische Begleiterkrankungen, etwa durch Diabetes oder Polyneuropathie. Viele Betroffene spüren weniger – oder anders. Das kann dazu führen, dass man sich unbemerkt wundreibt oder überreizt. Hier helfen individuell einstellbare Geräte, bei denen Druck und Bewegung reguliert werden können. Auch eine ergonomische Lagerung – mit Kissen, Decken oder gepolsterten Unterlagen – kann Entspannung fördern und Schmerzen vermeiden helfen.

 

Gerade deshalb ist es wichtig, auf passende und körpergerechte Produkte zu achten. Doch bisher berücksichtigen nur wenige Hersteller eingeschränkte Motorik, fehlendes Tastgefühl oder besondere hygienische Anforderungen. Vereinzelte Angebote finden sich in spezialisierten Sanitätshäusern, sexualpädagogisch begleiteten Projekten oder in Online-Shops, die gezielt auf barrierefreie Produkte achten.

 

Hilfen mit großen Bedienelementen, leicht desinfizierbare Materialien oder fernsteuerbare Geräte können hier neue Möglichkeiten eröffnen – auch bei eingeschränkter Beweglichkeit. Dennoch gilt: Eine persönliche Beratung durch Fachkräfte bleibt sinnvoll, um Risiken zu vermeiden und passende Lösungen zu finden.

 

Drei Stimmen – drei Wege zurück zur Nähe

 

·        Sabine, 42: „Ich darf mich gut fühlen – auch mit Dialyse.“

 

·        Florian, 18: „Auch wir Jüngeren wollen gesehen werden.“

 

·        Ingrid, 69: „Zärtlichkeit endet nicht mit dem Alter.“

 

Bea, 42, alleinstehend, seit sechs Jahren an der Dialyse

  • „Ich hätte nie gedacht, dass das Thema Nähe für mich mal so schwierig wird“, erzählte Bea, 42 Jahre alt, seit sechs Jahren an der Dialyse auf der Transplantationsliste. „Ich war früher ein sehr körperlicher Mensch. Kuscheln, Zärtlichkeit, Sexualität – das hat einfach dazugehört. Aber seit der Nierenerkrankung und Beginn der Dialyse hat sich viel verändert. Mein Körper fühlt sich auch durch die Narben fremd an mit dem Shunt, der Abhängigkeit durch die Dialyse, wie allen anderen Veränderungen. Ich hatte lange das Gefühl, ich darf gar keine Ansprüche im sexuellen Bereich mehr haben – ich bin ja jetzt krank.“ „Partnerschaft? Da war ich irgendwann nur noch abwehrend. Wer sollte mich so nehmen? Und doch bleibt da dieses Bedürfnis – nach Berührung, nach Geborgenheit, nach dem Gefühl, dass ich noch als Frau wahrgenommen werden möchte. Ich habe dann begonnen, mich zu informieren. Auch über Hilfsmittel/Toys, über Selbstberührung. Ich merkte: Es ist mein Recht, mich hier gut zu fühlen – auch mit dieser Krankheit. Und wenn ich das schon nicht mit jemandem teilen kann, dann wenigstens mit mir selbst. Ohne Scham.“

Florian, 18 Jahre, seit dem 10. Lebensjahr an der Dialyse

  • „Wenn du als Kind schon Dialyse bekommst, bist du irgendwie nie ganz so frei wie andere. Ich hab in der Pubertät gemerkt, dass sich bei mir vieles anderst entwickelt – nicht nur körperlich, sondern auch innerlich. Während die anderen über ihre ersten Freundinnen geredet haben, saß ich mit Schläuchen am Arm im Behandlungsstuhl.“ „Ich hatte keine Verbindung zu meinem Körper so wie ich es von anderen hörte. Wer will schon jemanden mit Narben, Katheter, Shunt? Ich hab lange gedacht, dass Sex, Liebe oder Flirten einfach nicht zu meinem Leben gehören dürfen. Erst durch ein Gespräch mit einem coolen Pfleger Ralf hab ich gelernt, dass ich sehr wohl ein Recht darauf habe, mich gut zu fühlen. Dass ich nicht perfekt sein muss. Heute versuche ich, meinen Körper Stück für Stück anzunehmen – mit allem, was dazugehört. Auch Lust.“

Ingrid, 69 Jahre, seit drei Jahren Dialysepatientin

  • „Ich bin 69 und verwitwet. Mein Mann war 38 Jahre an meiner Seite. Als er starb, war für mich klar: Das Thema Nähe und Zärtlichkeit ist somit für mich abgeschlossen. Dann kam die Dialyse – und noch viel mehr an Unsicherheit. Trotz allem wurde mir irgendwann klar: Ich bin noch nicht tot, nur weil ich alt bin. Ich lebe ja noch. Und ich sehnte mich nach Wärme, ja und nach Berührung. Auch wenn das vielleicht von einer alten Frau wie mir niemand mehr erwartet.“ „Ich habe mir nach langem Zögern aus Verlegenheit und überlegen dann doch ein sanftes Massagegerät gekauft – etwas für mich ganz privat. Es hat dann noch gedauert, bis ich mich getraut habe, es auszuprobieren. Aber es war wie soll ich es richtig ausdrücken, ein kleines Wiedersehen mit mir selbst. Nicht sexuell im engeren Sinne – aber körperlich, lebendig. Es geht nicht darum, was andere denken. Es geht um mich und es tut mir gut.“

Ein Arzt spricht aus, was viele spüren

  • „Sexualität ist ein Thema, das im Dialysealltag viel zu selten angesprochen wird – obwohl es ganz klar zur Lebensqualität gehört. Als Nephrologe sehe ich täglich, wie sich chronische Krankheit, Fatigue, Medikamente und körperliche Veränderungen auf das Erleben der Patientinnen und Patienten auswirken. Viele sprechen es aber gar nicht erst an – aus Scham oder weil sie denken, das gehöre sich nicht mehr. Und auch wir Ärzt*innen vermeiden das Thema oft, nicht aus Desinteresse, sondern weil uns die Routine, die Zeit oder schlicht die Worte fehlen. Wir müssen ehrlich sein: In der nephrologischen Versorgung, selbst auf Kongressen, wird über Sexualität bei Patienten viel zu wenig geredet. Das ist ein Versorgungsdefizit – vor allem, wenn es um junge Betroffene, alleinstehende Menschen oder Patient*innen mit seelischer Belastung geht. Dabei braucht es manchmal gar nicht viel – ein offenes Ohr, ein verständnisvoller Satz oder das Angebot, gemeinsam nach Hilfen zu suchen.“

Warum niemand zu jung oder zu alt für Nähe ist

 

Für junge Menschen mit chronischer Nierenerkrankung – zum Beispiel sogenannte „Nierenkinder“ – ist das Thema Sexualität besonders schambehaftet. Während andere Jugendliche erste Erfahrungen sammeln, spielt es in der Therapie oft kaum eine Rolle – bestenfalls am Rande und selten diskret eingebettet. Fragen zur eigenen Sexualität, zum Körpergefühl oder zur Partnerschaft bleiben deshalb häufig unausgesprochen – und damit unbeantwortet. Dabei ist gerade in der Jugend das Bedürfnis nach Identität und körperlicher Selbstwahrnehmung besonders stark ausgeprägt. Hier hilft nur eines: offene, altersgerechte Aufklärung – ohne Tabus und ohne erhobenen Zeigefinger. Leider findet dieses Thema in der ärztlichen Betreuung oder in der psychologischen Begleitung noch viel zu selten Beachtung. Gerade in der pädiatrisch-nephrologischen Versorgung sollte es jedoch aktiv angesprochen werden – frühzeitig, wie sensibel und natürlich vertrauensvoll.

 

Aber auch ältere Menschen profitieren davon, wenn ihnen vermittelt wird: Sexualität muss nicht aufgegeben werden. Sie darf sich verändern – zärtlicher, ruhiger, vielleicht technikgestützt –, aber sie bleibt ein Teil des Lebens. Wer sich traut, das Thema anzusprechen, erlebt oft Erleichterung. Dazu braucht es allerdings Mut – und ein stabiles Vertrauensverhältnis zu den behandelnden Ärzt*innen. Natürlich gehört dieses sensible Thema nicht in ein Krankenzimmer voller Zuhörer – sondern in einen geschützten Rahmen.

 

Emotionale Assistenz durch KI – eine neue Dimension?

 

Auch wenn Berührung und Partnerschaft zutiefst menschlich sind, entstehen weltweit neue Wege, wie Technik diese Lücke zumindest teilweise zu füllen versucht – besonders dort, wo Einsamkeit, Krankheit oder Isolation bestehen.

 

In Japan und Südkorea, aber zunehmend auch in westlichen Ländern, gibt es erste Versuche mit KI-gesteuerten Begleiter*innen: digitale Avatare mit Stimme, Persönlichkeit und emotionaler Rückmeldung, oft in Apps oder sogar als Projektionsfiguren in bewegungsgesteuerten Säulen. Manche Menschen sprechen täglich mit solchen Systemen, lassen sich erinnern, beruhigen oder durch freundliche Worte begleiten.

 

Kann das Nähe ersetzen? Sicher nicht vollständig und vielen von uns fehlt sicher die Vorstellung dazu oder emotionalen Zugang wie technisches Verständnis. Aber vielleicht kann es doch – dort, wo körperliche Beziehung fehlt – ein neues Fenster zur Selbstwahrnehmung und emotionalen Verbindung öffnen. Nähe wird in Zukunft, das ist sicher, auch digitale Formen finden. Ob sie wärmer oder kälter ist, entscheidet weniger die Technik – als vielmehr der Mensch, der sie nutzt.

 

Sich selbst wieder näherkommen

 

Auch der Nephrologe oder die behandelnde Ärztin kann in diesem sensiblen Bereich wichtige Hilfe leisten – nicht nur durch Zuhören, sondern auch durch konkrete Beratung. Viele Nierenpatient*innen wissen nicht, dass Medikamente wie Viagra (Sildenafil) oder ähnliche Mittel bei Erektionsstörungen auch bei Dialyse oder eingeschränkter Nierenfunktion möglich sein können – sofern sie individuell angepasst und medizinisch überwacht werden.

 

Für Frauen gibt es, anhand meiner Recherchen ähnliche Medikamente zur Steigerung der Libido die Wirkstoffe Flibanserin (Addyi®) und Bremelanotid (Vyleesi®), die bislang nur in den USA zugelassen sind. Allerdings wird dort auch von zahlreichen ernsthaften Nebenwirkungen berichtet. Ein ehrliches Gespräch mit dem behandelnden Team kann hier neue Wege eröffnen – ohne Scham und mit einem echten Gewinn an Lebensqualität im sehr privaten Bereich.

 

Sexualmedizinische Beratungsstellen, Urologinnen, Gynäkologinnen und auch viele Nephrolog*innen sind heute offener als früher – ebenso viele Selbsthilfegruppen. Auch Onlineforen bieten geschützte Räume, in denen offen gefragt und ehrlich geteilt werden kann – anonym, achtsam und mitfühlend.

 

Selbstfürsorge bedeutet nicht nur, Medikamente zu nehmen oder zur Dialyse zu gehen. Sie bedeutet auch, sich selbst etwas Gutes zu tun, im eigenen Körper zu wohnen, wieder Lust zu spüren. Selbst wenn keine Partnerschaft mehr möglich ist – Sinnlichkeit bleibt. Und sie darf gelebt werden – im eigenen Tempo, im eigenen Maßstab.

 

Wichtig ist: Niemand muss sich rechtfertigen. Wer auf Maschinen angewiesen ist, wer Narben trägt oder spürt, dass der Körper sich verändert hat, ist nicht weniger wert. Auch dann darf man sich selbst liebevoll begegnen – und neugierig bleiben auf das, was möglich ist.

 

Mit diesem Beitrag möchte ich Mut machen. Nicht alles ist wie früher – aber vieles ist noch da. Und manches kann neu entdeckt werden. Allein zu sein heißt nicht, einsam bleiben zu müssen. Berührung beginnt bei uns selbst.

 

Hinweis: Dieser Artikel dient der Information und ersetzt keine ärztliche Beratung. Wer gesundheitliche Bedenken hat – etwa durch Blutverdünnung, Herzprobleme oder Sensibilitätsstörungen – sollte sich an ärztliches oder sexualmedizinisches Fachpersonal wenden.

 

Persönlicher Dank und Hintergrund

 

Ich hatte lange Zeit schon den Gedanken, einen solchen Artikel zu schreiben. Der Anfangsgedanke entstand im Sommer 2024. Ich wusste jedoch noch nicht, wie ich so ein Thema angehen sollte, und es fehlte mir an klarer Struktur – und auch an medizinischem Fachwissen. Aber ich wollte offen machen, was so oft verschwiegen oder übergangen wird: die Bedeutung von Nähe, Körperlichkeit und Selbstfürsorge trotz Krankheit. So begann ich, mich medizinisch einzulesen.

 

Daraus ist – in rund ca. 80 Stunden intensiver Arbeit – ein Artikel entstanden, wie ich noch keinen geschrieben habe. Ich habe auf vielen Wegen im Internet recherchiert und mit vielen Menschen gesprochen, die mich auf ihre Weise zahlreich unterstützt haben: Ich sprach mit Pflegerinnen und Pflegern, Ärztinnen und Ärzten, mit Betroffenen, die ihre Gedanken, Zweifel oder auch persönlichen Erfahrungen mit mir geteilt haben – persönlich, telefonisch, und oft habe ich auch viel zwischen den Zeilen erkannt.

 

Bei diesem Text habe ich zudem die KI-Anwendung ChatGPT (OpenAI) als Unterstützung genutzt. Die habe ich beim Kongress für Nephrologie 2024 näher kenngelernt. Der Artikel ist so – im Zusammenspiel vieler – Stück für Stück über Monate hinweg gewachsen.

 

Er basiert auf eigenen Erfahrungen, Gesprächen mit Betroffenen, Rückmeldungen aus der Pflegepraxis und ergänzender Literaturrecherche. Die Fallbeispiele und Zitate sind stilisiert, aber realitätsnah aus meinen Gesprächen entstanden – sie spiegeln zentrale Lebensthemen von Menschen mit Dialysetherapie.

 

Ich danke allen, die mir vertraut haben. Allen, die zugehört, mitgedacht oder mit Worten geholfen haben. Und allen, die sich getraut haben, darüber zu lesen – und vielleicht auch darüber zu sprechen. Auch einem Mitpatienten, der mir hierzu die Finalidee ganz unbewusst geschenkt hat!

 

Es tut mir leid, dass dieses Thema nicht in einem 30-Sekunden-TikTok-Film mit Musik unterlegt erzählt werden konnte. Aber ich hoffe, es lohnt sich, dafür ein paar Minuten länger auch mal das Auge zum Lesen zu animieren. So verlernt man es auch nicht.

 

Nachwort

 

Dieser Artikel ist kein Schlusswort. Er ist eine Einladung, das Thema Nähe, Sexualität und Selbstfürsorge bei chronischer Krankheit offener zu betrachten – im Leben, in der Medizin, in der Pflege, in der Gesellschaft.

 

Wer mit Dialyse lebt, erlebt viel: Kontrollverlust, Körperveränderung, medizinische Abhängigkeit – aber auch das tiefe Bedürfnis, sich selbst nicht zu verlieren. Berührung, Lust, Zärtlichkeit, Selbstachtung – das alles sind keine Nebensächlichkeiten. Es sind Fragen von Würde. Und manchmal auch von Überleben.

 

Vielleicht braucht es in Zukunft mehr Räume, in denen über diese Dinge gesprochen werden kann. Räume, in denen Fragen erlaubt sind, ohne beschämt zu werden. Räume, in denen Pflegekräfte offen sagen dürfen, was sie belastet – und Patient*innen ehrlich zeigen dürfen, was ihnen fehlt. Vielleicht braucht es sexualmedizinische Beratung als festen Teil der nephrologischen Versorgung. Vielleicht auch einfach nur mehr Mut, hinzusehen, wo bisher geschwiegen wird.

 

Und vielleicht reicht manchmal schon ein ehrliches Gespräch. Jemand, der zuhört. Ein offenes Ohr, ein Blick, ein Satz wie: „Du darfst das noch wollen.“

 

Denn der Wunsch nach Nähe hört nicht auf, nur weil man krank ist. Und die Fähigkeit zu fühlen auch nicht. Wer lebt, darf auch lebendig sein. Auch dann – oder gerade dann – wenn vieles im Leben sich verändert hat.

 

In 46 Jahren Dialyse wurde ich genau ein einziges Mal von einem behandelnden Arzt auf das Thema Sexualität angesprochen – das war vor über 20 Jahren. Seitdem sind viele Ärztinnen und Ärzte gekommen und gegangen, aber niemand hat dieses Thema je wieder – auch nur im Entferntesten – zur Sprache gebracht.

 

Autor: Martin G. Müller (53) lebt seit den 1970er Jahren mit einer chronischen Nierenerkrankung. Als Selbsthilfe-Akteur und Autor gibt er seine Erfahrungen und die seiner Mitpatienten weiter – insbesondere der Langzeitpatienten der 1970er Jahre, deren Bedürfnisse heute oft übersehen werden. Seine Analysen basieren nicht auf Studien, sondern auf jahrzehntelanger eigener Erfahrung und der Beobachtung seiner Mitpatienten, die er namentlich nennen könnte. Durch Artikel, Vorträge und Publikationen vermittelt er Ärzten, Pflegekräften und Gesellschaft wertvolle Einblicke in den Alltag von Patienten.

 

Quellenangaben

 

·        CDC – Chronic Kidney Disease and Sexual Health
cdc.gov

·        Home Dialysis Central – Discussing Sexual Function with Dialysis Patients
homedialysis.org

·        Dialyse & Ich – Sex und Partnerschaft
dialyse-und-ich.de

·        ISSM / PubMed – Sexual Dysfunctions in Women and Men with CKD

·        Reddit – Erfahrungsberichte internationaler Betroffener (z. B. /r/dialysis)

·        Saarbrücker Zeitung - https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/sexualassistenz-im-saarland-vorerst-gerettet_aid-38650143 - https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/sexualassistenz-im-saarland-vor-dem-aus_aid-36673155

·        Sexualassistenz und Sexualbegleitung - https://www.enableme.de/de/artikel/sexualbegleitung-2384

·        Sexualbegleitung: Sex, Intimität und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung ZDF 37 Grad - https://www.youtube.com/watch?v=SjbFSwjizaA

·        Ärzte Zeitung / Tabuthema - Das macht ein Sexualbegleiter - https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Das-macht-ein-Sexualbegleiter-229517.html

·        Lets Talk About Sex (and Dialysis)! - https://homedialysis.org/news-and-research/blog/446-lets-talk-about-sex-(and-dialysis)

·        When You Have Lost That Loving Feeling: Sex and Intimacy on Dialysis - https://www.dpcedcenter.org/news-events/news/when-you-have-lost-that-loving-feeling-sex-and-intimacy-on-dialysis/

 

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