Der Langzeitpatient im Wandel der Medizin und Zeit ...

Anfang

1976 erkrankte ich chronisch an den Nieren. Seit 1979 werde ich mit der Dialyse behandelt. So gehöre ich gleichzeitig mit zur ersten Generation nierenkranker Kinder in Deutschland, welche bis heute mit der Nierenersatztherapie, auch Transplantation, regelmäßig behandelt wurden. Zuvor gab es für Kinder kaum regelmäßige Therapieangebote. So war mein großes Glück in einer Zeit zu erkranken, wo sich die Behandlung der nephrologischen Pädiatrie im Aufbau befand.

 

In dieser sogenannten Pionierzeit lernte ich alle Ärzte der ersten Stunde, an der Universitätskinderklinik Heidelberg, da sie mich persönlich behandelten kennen. Es waren Menschen aus den Bereichen Nephrologie, Kardiologie, Psychologie, Lehrer*innen, Ernährungsberater*innen, Urologie, Chirurgie, Shuntchirurgie, Pflege (Station/Dialyse) Dialysetechnik und Industrie. Alle diese Pioniere*innen standen mit an meinem Krankenbett.

Alle genannten Fachbereiche und Fakultäten haben zu dieser Zeit ihre Erfahrungen gesammelt und in fachübergreifenden Konzilen (vom Prof. bis Assistenzarzt) besprochen. Die Größe der Konzile habe ich bis heute nie wieder gesehen. Teils fanden solche Zusammenkünfte im Hörsaal statt.  So wurden für die Patienten in vielumfassender fachlicher Runde, Behandlungsstrategien angefertigt.  Jeder der Teilnehmer kannte den Patienten und hatte seinen Therapieverlauf im Blick.

 

Das erlangte Wissen wurde einige Jahre später durch aussenden dieser Ärzte an andere Universitäten deutschlandweit wie international weitergetragen. Wir kleinen Patienten lieferten so mit die Daten für den Ausgangspunkt der Kindernephrologie.

Mit Bewunderung denke ich oft über diese  spannende Zeit nach. Es ist für mich faszinierend, in welcher außergewöhnlichen Zeit von medizinischen Abläufen ich groß geworden bin. Ich lernte medizinische Entdecker, Wissenschaftler, Wegbereiter und Pioniere der Medizingeschichte dieser Fachrichtung nicht nur kennen, sondern ich war wie meine Mitpatienten  Hauptbestandteil!

 

Die Entwicklung der Kindernephrologie ist für mich mit den medizinischen  Errungenschaften der Größen eines Prof. Robert Koch, Prof. Paul Erlicher, Prof. Ferdinand Sauerbruch  und weiteren gleichzusetzen. Leider wurden die Leistungen der Ärzte nie in der Art dieser Medizingrößen gewürdigt. Dabei ist aus ihren Forschungen wie Entwicklungen  bis heute, über fünfzig Jahre später, eine lebensrettende Behandlung für nierenkranke Kinder in allen Bereichen entstanden. Auf ihrem wissenschaftlichem Fundament wurde alles aufgebaut und weiterentwickelt.

 

In dieser spannenden Zeit lernte ich bis ca. 2015 Mediziner kennen, die Ihren Patienten mit Wissen  als Stütze zur Seite standen. Ihre Namen bleiben immer in Erinnerung. Damals waren Klinikdirektor, Oberärzte,  Assistenzärzte und Nephrologen nah am Patienten. Sie hörten nicht nur, sondern hörten zu. Man war irgendwie erleichtert, weil man sein Leid, seine Unsicherheit nicht mehr allein tragen musste. Medizin wurde damals erklärt und war, da die Ärzte die Sprache der Patienten sprachen, gut verständlich. Zuhören besitzt eine heilende Wirkung.

 

Heute verstehe ich die Medizin in ihrer Veränderung nur noch schwer. Man erkennt auch keinen mehr der in der Hektik des Medizinalltags wirklich nachhaltig zuhört. Die Definition der Patientensicherheit ist für mich inzwischen, wo alle Abläufe arbeitstechnisch, personell wie zeitlich auf Kante genäht sind, ein Buch mit sieben Siegeln!

 

Fallbeispiel

Hier ein Beispiel das „ich“ (Patient) vor Kurzem mehr oder weniger, da ich medizinisch nicht unwissend bin, zum Schutz eines Patienten verhindern konnte.

 

Einem Dialysepatient*in wurde von zwei Fachrichtungen außerhalb der Nephrologie ein Medikament verordnet. Die jungen Assistenzärzte im Nierenbereich, haben pflichtbewusst alles was die Fachrichtungen vorgaben, in die Wege geleitet. Keiner hinterfragte jedoch, ist die Therapie im nephrologischen Bereich überhaupt für meinen Patienten möglich/erlaubt? Ich stellte jedoch diese Fragen da ich davon im Dialysebereich, auf Kongressen oder Fachliteratur, noch nichts gehört oder gelesen hatte. Da ich keine Antwort von den Ärzten erhielt, recherchierte ich dazu. Mit meinen erlangten Ergebnissen verunsicherte ich die Ärzte so, dass sie bei ihren Vorgesetzten genauer nachfragten. Im Anschluss kamen sie zum Patienten und erklärten, dass das Medikament bei Dialysepatienten ehr kontraproduktiv sei und daher in der Anwendung nicht möglich ist.

 

Auf meine Frage wie alles verlaufen wäre, wenn ich geschwiegen hätte, schaute man mich nur schweigsam an. Sicher wäre der Patient nicht gestorben, aber er hätte einen unnötigen wie großen Leidensweg gehen müssen. Ist das zuverlässige Patientensicherheit? Jedes Management würde offiziell diese Frage sicher mit Ja beantworten.

 

Stationäre Dialyse

Ein Assistenzarzt in der Fachausbildung  versteht heute weder am Anfang noch teils am Ende seiner Dienstzeit alle Abläufe der Dialyse. Positive Ausnahmen gibt es. Das bedeutet jedoch, er behandelt Patienten, obwohl er die Therapieabläufe, Therapieoptionen und Zusammenhänge noch nicht erfasst! Es fehlt das Wissen, dass man einen Patienten mit z.B. Phosphatproblemen nicht nur medikamentös, sondern auch mit  größerem Dialysefilter, längerer Dialysezeit, höherem  Dialysatfluss sowie Blutfluss behandeln kann. Beim höheren Blutfluss denkt er auch nicht an andere Druckverhältnisse, um so für den Shunt eine andere schonendere Nadelart anzuordnen. Ob bei erhöhten Blutwerten, an eine Rezirkulation im Shunt gedacht wird, bleibt fraglich. Die jungen Ärzte kennen auch meist nicht die Situation der Molekularstruktur der verschiedenen Dialysefilter und daher meist auch nicht, welche Medikamente durch die Dialyse zeitnah wieder verloren gehen.

 

Viele können nicht mal selbstsicher einen Shunt punktieren. So kennt auch kaum einer die Punktionstechniken, um damit Shuntprobleme zu beheben und einen Shunt zu entwickeln. Er versteht „noch“ nicht, wie die Einstellungen der Maschine, das Wohlbefinden des Patienten nicht nur an der Dialyse, sondern auch danach zu Hause beeinflussen.

 

So wird in diesen Abteilungen ohne großes Wissen behandelt. Das junge Dialysepersonal (häufig medizinische Fachangestellte) kann nicht wie die nephrologische Fachpflege, diese Wissenslücke ausgleichen. Auch hier stellt sich die Frage nach der Patientensicherheit. Die Direktion würde darauf verweisen, es ist noch keiner zu Schaden gekommen. Nach der Lebensqualität des Patienten fragt jedoch keiner!

 

So sieht die Patientensicherheit aus, die wir als Langzeitpatienten erleben und vom Qualitätsmanagement ohne Aussage zu Lebensqualität zertifiziert wird! Die Frage nach den Professoren und Oberärzten an den Patientenbetten, die das Wissen besitzen, welches wir Altpatienten benötigen, stellt man erst gar nicht mehr. Die erblickt man wenn nur in der Ferne am Horizont wie die Heiligen drei Könige vorbeiziehen. Das hat jedoch auch alles einen gesundheitspolitischen Hintergrund.

 

Gesundheitspolitik

Seit im Jahre 2003 die Pauschalerstattungen eingeführt wurden und Krankenhäuser fortan Gewinne erwirtschaften mussten, reduzierte sich Pflegepersonal/Ärzte fortwährend. Derzeit schreiben 60 % der Kliniken rote Zahlen. Kommt kein Inflationsausgleich für die Einrichtungen, droht ein weiterer flächendeckender Personalabbau. Der steht im Gesundheitsbereich in naher Zukunft sowieso bevor. 50 % der heutigen Ärzte sind aus den Jahren der Baby-Boomer und gehen somit in den nächsten Jahren in Rente. Es fehlt dann Massiv der Nachwuchs. Die neue Generation Ärzte wird jedoch gleichzeitig nicht mehr so viele Stunden arbeiten wie die Ärzte heute. Sie lassen sich nicht mehr ausbeuten. Für sie ist Familie und Freizeit ein wichtiger Lebenspunkt. Bis ins Jahr 2030 werden,  wenn sich die derzeitigen Trends fortsetzen, 500.000 offene Pflegestellen erwartet. Aktuell fehlen schon 200.000 Pflegekräfte. Durchschnittlich bleit heute eine Pflegestelle 240 Tage unbesetzt. 2035 fehlen über dies durchschnittlich 11.000 Ärzte. Bis 2035 werden 30.000 Ärzte altersbedingt laut der Robert Bosch Stiftung aus dem Beruf ausscheiden.

 

Es ist sicher notwendig eine Krankenhausstrukturreform durchzuführen, doch wie möchte man die Patienten, die dann in den ambulanten Bereich verschoben werden sollen behandeln? Wenn Ärzte und Pflegekräfte wie dargestellt fehlen, werden diese auch im ambulanten Bereich nicht vorhanden sein! Am Ende stehen die Patienten erneut vor den Krankenhäusern, von denen dann wohl schon einige geschlossen wurden. Ich kann ein Haus im Bau noch so schön planen und ankündigen, jedoch ohne Material wird es eine Luftnummer bleiben.

Wie wird sich die Patientensicherheit in allen Bereichen mit diesen Abläufen entwickeln? Eine Antwort können da wahrscheinlich auch die Controller nicht mehr formulieren. Die Frage wo hier noch Zeit und Hilfe für Langzeitpatienten zu finden ist, stelle ich erst gar nicht mehr!

 

Zukunft mit intelligenter Technik

Die Lösungen den Personalmangel auszugleichen sucht man nicht mehr in erster Linie beim Menschen, sondern in der Technik. Inzwischen kommen Roboter längst nicht mehr nur in der Gastronomie zum Einsatz. In Pflegeheimen wie Krankenhäuser werden Pflegeroboter getestet. Hier stehen nun vieler Orts schon  Roboter und singen oder turnen mit den Senioren. In einigen Krankenhäusern bringen in Testphasen Roboter Getränke, Essen und Medikamente ans Bett oder die Patienten zu Untersuchungen. Ein Bild das in Japan zum Alltag gehört. Japan setzt angesichts seiner rasant alternden Gesellschaft bei der Pflege verstärkt auf Roboter wie künstliche Intelligenz. Die menschliche Zuwendung mit Empathie, welche in der Medizin so wichtig ist, kann durch Technik nicht ersetzt werden. Ob sie jedoch in der Zukunft noch so erwünscht ist, wie hier von früher dargestellt wurde, lasse ich offen.

 

Alles wird für die Zukunft auf Technik und Einfachheit ausgerichtet selbst die Patientenzimmer. Zimmer stellt man sich laut einer Pressemeldung zukünftig so vor: „Eigene Bäder für alle Patient*innen, fugenlose und leicht zu reinigende Nachttische mit schmutzabweisenden Oberflächen, Desinfektionsmittelspender, die bei Benutzung einen Smiley zeigen: So könnte das „Patientenzimmer der Zukunft“ aussehen. Der begehbare Demonstrator eines solchen Zweibettzimmers wurde am 31.08.2022 auf dem Gelände des Städtischen Klinikums Braunschweig schon eröffnet.“

 

Veränderte Abläufe

Wo wir früher im teilstationären Bereich als Patienten, noch regelmäßig vom Wissen des Chefarztes, Direktor, Oberarztes am Bett profitieren konnten, fehlt die Erfahrung heute an dieser Arbeitsstelle vieler Orts vollständig. Die Zeit die sie früher noch hatten, geht heute bei großen Kongressen wo sie weltweit Vorträge halten sowie  Daten ihrer Forschung präsentieren, verloren. Auch die Ausbildung der Assistenzärzte  durch Oberärzte bei regelmäßigen Visiten an der Dialyse wie früher, wo mit dem Patienten noch gesprochen wurde, sind  fast komplett verloren gegangen. In diesen Abläufen erkennt man keine zeitnahe Behandlung mit zielführenden Strukturen mehr. Bis zu einer Diagnose können sechs bis acht Wochen vergehen. Es fehlen in allen Bereichen Ärzten wie früher, die durch Beobachten und mit detektivischem Gespür wie Empathie, versuchten Krankheiten aufzudecken. Die Patienten dabei erst mit der Hand statt mit Gräten untersuchten und sich am Ende durch die Betätigung kindlich freuten, da sie sich die Diagnose gleich so gedacht hatten. Das muss für die Ärzte ein tolles Gefühl gewesen sein, welches die heutige Generation kaum noch in der Form aus ihrem Beruf kennen dürfte. Der Langzeitpatient stellt Erwartungen an das neue System, die inzwischen realitätsfremd sind. Die Patienten müssen sich nun erneut in einer neuen Medizinepoche ausrichten. Ob dies jedoch noch allen mit nun teils schwacher Lebenskraft noch gelingt …?!

Bildrechte bei Shutterstock Quelle: https://www.tagblatt.de/Nachrichten/Am-Ende-ist-noch-lange-nicht-Schluss-358712.html
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Fazit:

Wie hieß es bei Loriot? „Früher war mehr Lametta!“ Die Anfangspatienten der 70iger Jahre haben zahlreiche Epochen der Medizingeschichte bis heute durch/-und überlebt. Sie haben über alle Jahrzehnte, von der verbal/- bis hin zur heutigen digital und Roboter unterstützter  modernen Medizin Daten geliefert. Die Zeiten der großen fachübergreifenden Konzile im Bemühen um ihr Wohlergehen sind lange beendet. Die Hörsäle, wo sie einst wie Stars besprochen wurden, befinden sich im Abriss. Die Patienten selbst laufen als kleine Gruppe noch immer an der Spitze und erdulden Krankheitsbilder/Symptomkomplexe, die heute in der digitalen Ignoranz und engen Zeitfenster der Heilkunst unverstanden bleiben. Im klinischen Ablauf werden sie anonymisiert  Opfer der Triage. Die ärztliche Denkweise lautet, hier entzieht man sich medizinischer Hilfe. Die Bewegründe, die durch zahlreiche Therapieerfahrungen, teils über Jahrzehnte dazu führen, werden nicht erfasst. Die knappe Zeit wird so in Patienten angelegt, die sich erkennbar helfen lassen. Diese Pionierpatienten wurden von Kindheit an geschult sich mit Ihrer Krankheit auseinanderzusetzen, um so gemeinsam mit den Ärzten auf Augenhöhe ihre Therapie zu besprechen. So lesen sie zu den Bereichen ihres Krankheitsbildes medizinische Fachliteratur und besuchen online Fachkongresse. Nun entsteht jedoch eine ganz andere  Problemlage. Der Patient ist auf einem aktuelleren Stand als der Arzt. Um die vorgeschlagene Therapie von Patientenseite zu verstehen, müsste sich dieser einlesen, um mit dem Patienten auf Augenhöhe alles besprechen zu können. Dazu fehlt ihm im klinischen wie im niedergelassenen Bereich erneut die Zeit. In diesen Abläufen und Veränderungen kommen nur noch die Patienten weiter, die nach Jahrzehnten noch keine Unverträglichkeiten und Besonderheiten besitzen. Der Rest der Gruppe schwindet immer schneller, da sie sich nicht mehr in solche klinischen Abläufe begeben. Sie nehmen lieber teils die Todesfolge an. Befinden sie sich in Notlagen mit Bewusstseinsstörungen und werden standardisiert behandelt, versterben viele aus der Beobachtung in Kürze. Der Langzeitpatient hat im Wandel mit seinen komplexen Krankheitsbildern keinen Platz mehr, wo er medizinische Hilfe findet. Er sitzt nun bildlich dargestellt, auf seinem Pferd und reitet Richtung Sonnenuntergang! Wenn es für ihn positiv läuft, winkt ihm noch ein Arzt, der die Situation begreift, am Horizont nach …

 

Martin G. Müller